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Grenzschutz - Inszenierung beim letzten Castor - Transport

Der ICE , die Gleisbesetzer und der Lüneburger Polizeiskandal

An der Castor - Aktion auf der Gleisstrecke Hamburg - Hannover waren viele beteiligt: Die Anti - Atom - Demonstranten, Lokführer und Bahnreisende, Polizisten und Bundesgrenzschützer (inklusive 1 Geheimagent) , Medienvertreter und später Haftrichter, um nur einige zu nennen. Nach dem Spitzel - Eingeständnis des Grenzschutzes drängt sich die Frage auf: Wurden all diese Menschen von der Polizei - Einsatzleitung am Ende nur benutzt? Waren sie alle mehr oder weniger unfreiwillige Akteure in einem schäbigen Rollenspiel, dessen Drehbuch in der Bezirksregierung geschrieben wurde und dessen Titel lauten sollte: "Atomkraftgegner - kriminell und gemeingefährlich" ?

Für Beate Friedrich von der Heidewerkstatt liegt der Fall klar: "Der Verlauf der Blockade wurde von der Polizei, dem BGS und der Bezirksregierung wohlüberlegt und gezielt für ihre Zwecke ausgenutzt. Das bewusste Ziel war und ist die Kriminalisierung der Anti - Atom - Bewegung." , so die Sprecherin des Lüneburger Zusammenschlusses mehrerer Anti - AKW - Initiativen.

Der angesprochene Bundesgrenzschutz sieht das natürlich ganz anders. Andreas Bebensee, Pressesprecher beim zuständigen Grenzschutzpräsidium Nord in Bad Bramstedt zu anders: "Aufgabe des BGS ist es, Straftaten aufzuklären und womöglich zu verhindern. Dazu gehört auch die Informationsbeschaffung. Das machen Beamte in Uniform, aber auch in Zivil." Bebensee räumt denn auch unumwunden ein, dass bei der fraglichen Castor - Aktion ein ziviler Beamter verdeckt eingesetzt gewesen sei. Allerdings legt der BGS - Sprecher Wert darauf, dass dieser Polizei - Spitzel nicht als "verdeckter Ermittler" bezeichnet werden dürfe. Bebensee zu anders: "Der Beamte war eine zivile Aufklärungskraft" , solch ein Einsatz sei "übliche Praxis und eine ganz normaler Vorgang."

Von anders auf die auf die konkrete Tätigkeit seiner "Aufklärungskraft" beim Tag X angesprochen, wird Bebensee allerdings einsilbig. Wann der Beamte den Plan der Castor - Gegner erfahren hat? Moment mal: Ob der überhaupt und wenn, wann er welche Informationen ermittelte, ob er je die Möglichkeit hatte, das rechtzeitig weiterzuleiten (und wenn, an wen eigentlich) ? - das alles ist für Bebensee doch sehr die Frage, sagt er. Und das alles sei ja wohl Gegenstand staatanwaltschaftlicher Ermittlungen, dazu könne er keine Auskunft geben. Nur soviel will er anders dann doch gerne anvertrauen: "Wir haben da nichts inszeniert. Alles, was da jetzt geredet wird, ist falsch. Wenn uns jetzt beispielsweise unterstellt wird, wir hätten den Castor Zug extra vom ICE überholen lassen, um so besser Stimmung gegen die Demonstranten machen zu können, ist das Unsinn. Wir sind schließlich an Recht und Gesetz gebunden. Wenn wir eine Gleisblockade verhindern können, dann lassen wir die Demonstranten auch nicht auf Gleis."

Diesen Beteuerungen vom Bundesgrenzschutz mag Wolfram Plener ganz und gar nicht glauben. Der Rechtsanwalt der Demonstranten bezeichnete bereits unmittelbar nach dem Tag X die Aktion als "abgekartetes Spiel" . Plener weiter: "Aufgrund ihrer Aufklärungsarbeit wäre die Polizei in der Lage gewesen, die Aktion von Anfang an zu verhindern. Da sie das nicht tat, drängt sich der Eindruck auf, dass die Polizei die Aktion gewollt hat ablaufen lassen." Diese Einschätzung hat sich für Wolfram Plener seitdem nur noch erhärtet: "Mich erinnert das Verhalten der Staatsorgane in diesem Falle an das berühmte `Celler Loch´", so der Anwalt zu anders.

In der Tat sind die Indizien für Pleners Sichtweise erdrückend:
1) Der BGS - Spitzel Bruno Lohmann war an der Vorbereitung und Durchführung der Gleisbesetzung beteiligt.

2) Lohmann kannte spätestens zwischen Mitternacht und frühem Morgen von Tag X Art und Ort der geplanten Aktion.

3) Es ist schlicht weltfremd anzunehmen, dass Lohmann diese brisanten Informationen für sich behielt. Der Spitzel hatte ausreichend Zeit und Gelegenheit, sie ungestört an seine Einsatzleitung weiterzugeben.

4) Mithin kannte die Einsatzleitung bei der Bezirksregierung den Plan der Demonstranten. Sie konnte sogar den Zeitpunkt der Aktion in bestimmten Grenzen selbst beeinflussen und für sie günstig gestalten. Dazu brauchte sie lediglich Einfluss auf den "Fahrplan" des Castor - Zuges zu nehmen.

5) Also hätte die Einsatzleitung in aller Ruhe am Zielort der geplanten Aktion ausreichend Polizeikräfte aufstellen können. Sie hat aber genau dieses nicht nur nicht getan, sondern nach Zeugenberichten die in den gesamten Tagen zuvor in dem fraglichen Stadtteil überall präsenten Polizeifahrzeuge ausgerechnet wenige Stunden vor Eintreffen des Castor - Zuges abgezogen.

6) Kurz nachdem die Aktivisten sich von ihren Schlafstätten auf den Weg gemacht hatten, wurden sie nach eigenem Bekunden von BGS - Hubschraubern überflogen, erfasst und ersichtlich zur Bahnstrecke begleitet. Am Ende der Straßen Arenskule hätten dann mindestens 5 dieser Hubschrauber direkt über dem anvisierten Gleisabschnitt gekreist.

7) Am Boden seien zwar auch einige Polizisten gewesen, aber wenige; es ist von etwa 3 "Wannen" die Rede, die am Straßenrand parkten. Deren Besatzungen seien aber nicht wie sonst üblich hektisch aus den Fahrzeugen gesprungen, um die Demonstranten zu greifen, zurückzudrängen oder dergleichen. Sie ließen die Demonstranten passieren und zum Gleis laufen.

8) Auf dem Gleis hatten offenbar nur wenige BGS- ler gestanden. Die Demonstranten konnten so leicht auf das Gleis aus Richtung Hamburg gelangen. Erst danach seien mehrere Grenzschützer auf dem Gleis aus Richtung Bezirksregierung an den Aktionsort gekommen.

9) Die Grenzschützer riefen den Demonstranten zu, dass ein ICE sich nähere und sie runter von der Schiene sollten. Einige von ihnen waren offenbar tatsächlich in größter Sorge - vermutlich waren diese von der Einsatzleitung nicht eingeweiht worden. Andere wirkten angesichts der propagierten Todesgefahr auffallend cool, heißt es. Noch merkwürdiger: Sie brachten sich auch nicht selbst in Sicherheit vor dem angeblich heranbrausenden ICE. Sie überließen nicht die "verrückten, unbelehrbaren, lebensmüden Demonstranten" ihrem unvermeidlichen Schicksal (hier: selbstgewählter Tod durch ICE -Überfahren - Werden), sondern blieben selbst mannhaft zwischen den beiden Gleisen der Hauptstrecke stehen. "Als ich das bemerkte, war ich mir sicher: Die haben die Demonstranten gelinkt", so ein Insider zu anders.

10) Der ICE kam weit vor dem Tatort auf unspektakuläre Weise zum Stehen. Er war eben nicht mit normaler Geschwindigkeit herangefahren, wie auch Bahnsprecher Hans Jürgen Frohns gegenüber der Presse einräumen musste. Es ist jedem einsichtig, dass der Tag X kein normaler Bahnbetriebstag ist, dass die Lokführer auf Castor - Strecken spezielle Fahranweisungen haben müssen - und dies besonders im Raum Lüneburg, wo nicht weit entfernt vom diesjährigen Aktionsort beim Castortransport 2001 ebenfalls eine ICE -Aktion stattfand.

11) Die Demonstranten sagen, umsichtig wie bei der Aktion vor einem Jahr hätten sie telefonisch einen Warnanruf abgesetzt. Selbst wenn der nirgendwo an maßgeblicher Stelle eingegangen sein sollte (wie u.a. BGS - Sprecher Bebensee anders versichert), leuchtet unmittelbar ein : Wer schon eine geraume Weile vor Eintreffen des ICE mehrere Hubschrauber vor Ort hatte, hat damit alle Mittel zur rechtzeitigen Warnung des Zugführers. Er braucht dafür nicht Polizisten, die wie zu Zeiten vor Erfindung der drahtlosen Kommunikation dem Zug per pedes entgegeneilen und selbstlos durch Winken zum Halten bringen (in der Presse liest sich solche Story allerdings erheblich besser).

12) Wie bestellt erscheint die ganze Aktion dann auch im Lichte einer kurz nach der Aktion veröffentlichten Presseerklärung von der "Gemeinsamen Pressestelle Polizei und Bundesgrenzschutz zum Castor - Transport" ( anders veröffentlichte diese in der 2. Beilage ihrer letzten Ausgabe). Mit teils maßlosen Übertreibungen, teils böswilligen Fälschungen wird hier im Wildwest - Jargon die Melodie angestimmt, die tags darauf in großer Aufmachung Zeitungen wie die Landeszeitung pfeifen, die dann nicht zuletzt auch Innenminister Bartling (SPD) anstimmt: Die Protestgegner setzen danach rücksichtslos Leben aufs Spiel, sie haben nicht alle Sinne beieinander, ihre Straftaten bekommen allmählich die Qualität von Verbrechen.

Damit wird nun auch klar, was Hintergrund und Zweck dieser offenkundigen Polizei Inszenierung war: Castor - Transporte kreuz und quer durch Deutschland wird es noch unzählige geben. Der Widerstand dagegen lässt bislang nicht generell nach. Er geht buchstäblich neue Wege. So beschränkt er sich heute nicht mehr nur auf die Rücktransporte von La Hague und Sellafield nach Gorleben; sondern hat alle Castor - Transporte im Visier. Zudem lösen sich immer mehr Atomkraft - Gegener von dem Schauplatz der Nebenstrecke Lüneburg - Dannenberg. Störungen auch an anderen bisher unbekannten Schauplätzen werden sich häufen.

Wenn Demonstranten zukünftig immer häufiger auf den Gedanken verfallen, sich an verschiedensten Punkten der Hauptstrecken auf die Gleise zu setzen, wenn sie merken, dass sie die Atomtransporte auch dann wirkungsvoll behindern, wenn sie nicht unmittelbar den Castorzug selbst blockieren - sondern vielleicht irgendeinen Vor - oder Querzug, wenn sich dann noch in Demonstrantenkreisen der Gedanke durchsetzt, das ganze lässt sich gar nicht so schwer bewerkstelligen und sei überdies auch mit gut kalkulierbarem Risiko durchführbar, dann bekommen die Atom - Transporteure erhebliche zusätzliche Probleme.

Diese stattfindende Entwicklung muss aus Polizeisicht gestoppt werden. Da verfallen die Strategen jetzt offenbar wieder auf ein altbekanntes Mittel - es soll jetzt allerdings offenbar wieder höher dosiert werden: Der Versuch, den Widerstand zu diskreditieren ("nicht mehr ganz dicht") und zu kriminalisieren ("verantwortungslose Gefährdung des eigenen Lebens und des Lebens anderer"). Dieser Plan ist auf jeden Fall eine drastische Theater - Inszenierung wert, mag man sich im Innenministerium und in der Bezirksregierung gedacht haben. Vielleicht klappt es dieses Mal ja besser- und wenn zumindest einige Zeitungsleser von "Bild bis "LZ" das glauben , dann war das doch den ganzen Lug und Betrug wert, oder?

Peter Raykowski (Erstveröffentlichung in: anders - das Magazin für Lüneburg, Uelzen und das Wendland No. 5 Dez. 2002)

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