Immo de Vries
Gedenken an die Kriegsverbrechen in Lüneburg

Die Menschen, derer wir heute hier gedenken, gehörten zu einem KZ-Häftlingstransport – einem so genannten Evakuierungstransport – von Wilhelmshaven nach Neuengamme. Ich möchte darüber berichten, wer diese Menschen waren, woher sie kamen und was sie vier Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlitten.

In Wilhelmshaven war im September 1944 eines von etwa 80 Außenlagern des KZ Neuengamme errichtet worden, dessen Insassen zur Arbeit in der deutschen Rüstungsproduktion gezwungen wurden. Wie in allen Lagern waren die Existenzbedingungen dort katastrophal. Fast jeder Vierte der 1100 dort eingesetzten Männer ging daran zugrunde. Das Krankenrevier war Ende März 1945 vollkommen überfüllt. Es waren vor allem diese Kranken, etwa 390 Männer, in der Mehrzahl Franzosen, die Anfang April mit dem Zug nach Hamburg transportiert werden sollten und nur bis Lüneburg kamen.

Der Transport begann am Nachmittag des 3. April 1945 in Mariensiel bei Wilhelmshaven. Die Häftlinge waren indes schon in den frühen Morgenstunden in vier gedeckte Viehwaggons gezwängt worden, wobei die Hälfte des vierten Waggons der Wachmannschaft vorbehalten blieb. Diese Wachmannschaft bestand aus 17 Marineinfanteristen unter dem Befehl des Obermaats Rudolf Engelmann. Führer dieses Transports war der einzige anwesende SS-Mann, der 36-jährige Gustav Alfred Jepsen aus Haderslev in Nordschleswig.

Für die Strecke von Wilhelmshaven nach Lüneburg benötigte der Transport vier Tage, bis er am frühen Morgen des 7. April auf Gleis 31 des Güterbahnhofs stehen blieb. Für die Häftlinge war diese Zeit sehr qualvoll. Alle litten an Hunger und Durst. Da es keinerlei sanitäre Einrichtungen gab, beherrschte ein erdrückender Gestank nach Kot, aber auch nach den Ausdünstungen der Kranken und Toten den Raum. Eingepfercht in die Waggons hatten die Gefangenen keine Bewegungsfreiheit. Die Enge bewirkte aber auch Konflikte unter den Häftlingen, die durchaus gewollt waren. Ohne Wasser und ohne Brot auf engsten Raum zusammengedrängt blieb kein Platz für Mitgefühl oder gar Bemühungen, sich gemeinsam gegen die Wachen aufzulehnen. Im Kampf um das eigene Überleben waren die Häftlinge gezwungen, keine Rücksicht auf ihre Mitgefangenen zu nehmen. Hunger, Durst, Atemnot, Enge und Gewalt hatten zur Folge, dass viele der Gefangenen schon während der Fahrt nach Lüneburg starben.

Am Nachmittag des 7. April, einem Sonnabend, wurde der Lüneburger Güterbahnhof von der alliierten Luftwaffe angegriffen. Aber nicht nur Schienen und Versorgungstransporte der Wehrmacht wurden getroffen, sondern auch der Zug mit den KZ-Häftlingen, der aus der Luft nicht von anderen Zügen zu unterscheiden war. Der Angriff hatte verheerende Auswirkungen auf die Situation der Häftlinge, für deren Sicherheit nichts getan worden war. Im Gegenteil, damit sie den Zug nicht verlassen konnten, wurden Wachposten aufgestellt, die auf fliehende Gefangene schossen. Viele Insassen überlebten den Angriff nicht, denn ein Waggon wurde direkt getroffen, die anderen durch Druckwellen und übergreifende Flammen in schwere Mitleidenschaft gezogen. Überall lagen Leichen und Leichenteile herum.

Nur zwei Männern gelang die Flucht: dem Franzosen Roger Garoute und dem Belgier Albert de Clercq.
Eine Gruppe von vermutlich 140 Männern wurde in den ersten beiden Tagen nach dem Angriff mit Lastwagen nach Bergen-Belsen gebracht. Das Ausmaß an Hunger, Durst und Krankheiten dort übertraf die bisherigen Erfahrungen der Insassen aber noch bei weitem. Von dieser Gruppe sind nur drei Überlebende namentlich bekannt, es waren vermutlich nur wenig mehr.
Sie waren aber neben Garoute und de Clercq die einzigen, die den Transport aus Wilhelmshaven überlebten. Was geschah mit den anderen?

Nach dem Angriff waren die Häftlinge auf einem Feld versammelt worden, wo sie die folgenden Tage und Nächte im Freien bleiben mussten. Einige waren so erschöpft, dass sie diese Zeit nicht überlebten.
Täglich wurden Gefangene von SS-Mann Jepsen und den Wachen aus nichtigen Anlässen misshandelt und getötet. Ein Zeuge berichtete im Gerichtsprozess gegen Jepsen: Ich zitiere:„Dieser eine Mann war so schwach, dass er sich nicht bewegen konnte, und deshalb erschoss Jepsen ihn, und die anderen entfernten die Leiche.“Zitat Ende.

Drei Tage nach dem Angriff wurde damit begonnen, die Leichname zu beseitigen. Die Polizei, die bis dahin mit dem Verweis auf Unzuständigkeit nicht eingegriffen hatte, übernahm die Leitung und bemühte sich, die Leichen schnellstmöglich in einem Massengrab im Tiergarten verschwinden zu lassen. Dennoch sollte das Verscharren, zu dem französische und sowjetische Kriegsgefangene gezwungen wurden, zwei Tage dauern. Und am frühen Abend des 11. April waren noch viele Häftlinge am Leben.

Mehrere Häftlinge hatten sich in die Stadt geflüchtet, um an Nahrung oder Kleidung zu kommen. Die Lüneburger Gestapo begann eine Jagd auf diese Menschen. Teil dieser Kampagne war ein Aufruf in der „Lüneburger Zeitung“, in der es unter der Überschrift „Achtet auf entwichene KZ-Häftlinge!“ hieß (Ich zitiere): „Auch die gesamte zivile Bevölkerung und besonders die Führer der nationalsozialistischen Gliederungen und Politischen Leiter werden aufgefordert, sich an der Fahndung nach diesen KZ-Häftlingen zu beteiligen, die bekanntlich besonders zu Diebstahl, Raub und Plünderungen usw. neigen. Sie sind zu stellen und festzunehmen. Für den Fall, dass die Konzentrationsgefangenen sich zur Wehr setzen sollten, sind sie unter allen Umständen unschädlich zu machen.“(Zitat Ende)

Ob Einwohner Lüneburgs sich an dieser Menschenjagd beteiligten, lässt sich heute nur schwer sagen. Es gibt diesbezüglich nur wenige Hinweise von Gerichts- und Zeitzeugen. Nach dem Einmarsch der Briten am 18. April 1945 meldete die BBC, dass die Bevölkerung im Süden und Westen der Stadt mit Mistforken und Spaten auf die Entflohenen losgegangen sei. Die „Lüneburger Post“, die Zeitung der britischen Militärregierung, sprach davon, dass durch die Straßen Lüneburgs blutüberströmte, bis zum äußersten abgemagerte Männer getrieben worden seien. Das genaue Geschehen kann nicht rekonstruiert werden. Man kann aber davon ausgehen, dass fast alle Häftlinge, die sich vom Bahnhof entfernt hatten, wieder eingefangen und zurückgebracht wurden.

Am Abend des 11. April 1945 wurden alle noch lebenden Gefangenen ermordet: die Häftlinge, die am Sonnabend auf jenes Feld getrieben worden waren und seitdem auf ihr Schicksal warteten; die Häftlinge, die in die Stadt geflohen waren und wieder eingefangen wurden; und selbst 20 Häftlinge, die noch drei Tage zuvor zur medizinischen Versorgung ins Gerichtsgefängnis gebracht und erst am Mittwoch Morgen wieder abgeholt worden waren; 60 bis 80 Menschen wurden Opfer dieses Massakers von Soldaten der Wehrmacht und einem SS-Mann.

Jepsen wurde später in Dänemark festgenommen und musste sich in zwei Gerichtsprozessen verantworten. Wegen des Kriegsverbrechens in Lüneburg wurde er im August 1946 von einem britischen Militärgericht in Lüneburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Als mildernder Umstand war ihm lediglich anerkannt worden, dass er vermutlich auf Befehl gehandelt habe. Seine Beteiligung war unbestritten; er selbst hatte zugegeben, sechs Männer eigenhändig getötet zu haben. Für Verbrechen im KZ Wilhelmshaven wurde er in einer weiteren Verhandlung in Hamburg zum Tode verurteilt und im Juni 1947 in Hameln hingerichtet.

Im Lüneburger Prozess sollte auch der Obermaat Engelmann beschuldigt werden. Aber weder er noch die anderen Soldaten wurden jemals gefasst und für ihre Taten vor Gericht gestellt.

Ein halbes Jahr nach dem Kriegsverbrechen wurden die Leichname umgebettet und feierlich an dieser Stelle bestattet. Der Gedenkstein erinnert an 256 Menschen, die am 7. April 1945 in Lüneburg starben. Es erscheint mir aber unerlässlich – gerade auch anlässlich der Kritik an der Wehrmachtsausstellung und ihrer Folgen – darauf hinzuweisen, dass an dem Kriegsverbrechen auch Wehrmachtssoldaten maßgeblich beteiligt waren.

Ich denke aber auch, dass wir am heutigen Volkstrauertag die Opfer in den Mittelpunkt unseres Gedenkens stellen sollten. Ich möchte meinen Beitrag deshalb mit der Geschichte eines Mannes beschließen, die stellvertretend für alle sein möge. Zu dem Transport von Wilhelmshaven nach Lüneburg gehörte auch der 25jährige Franzose Jean de Frotte. Der junge Adlige war ein enger Freund des Briten Harold Le Druillenec, der diesen Transport als einer der wenigen in Bergen-Belsen überlebte und seine Verfolgungsgeschichte 1946 in einem Hörspiel veröffentlichte. Darin erinnert er auch an Jean de Frotte, der nach Deutschland verschleppt worden war, weil er sich am französischen Widerstand, im so genannten Maquis, gegen die deutschen Besetzer beteiligt hatte. Ich zitiere aus dem Hörspiel:

„De Frotte war einer der ersten, die krank wurden. Jeden Morgen brachen wir zusammen zur Fabrik auf, jeden Abend kehrten wir gemeinsam zurück. Jean bekam Husten, seine Füße waren aufgerissen und blutig, aber er hat sich nie beklagt. Ich erinnere mich immer, Jean, an eine Unterhaltung, die wir eines Abends auf dem Rückweg von der Fabrik führten.

De Frotte: ‚Harold, habe ich Ihnen erzählt, wie ich Englisch lernte? Ich lernte es in Couten. Das ist eines der schönsten Schlösser des 16. Jahrhunderts. Wissen Sie, die Zinnen, die kleinen Spitzdächer, ein Palast von einer Märchenfee. Und das ganze Haus und der Garten in Einklang mit der Landschaft. Das ist eine Sache, die unsere Vorfahren im Blut hatten, aber wir haben das verloren, glauben Sie nicht?‘

Dazwischen die deutschen Bewacher: ‚Ruhe in der Einteilung! Schmeißt die Beine hoch! Links! ... Links!‘

De Frotte: ‚Als ich ein Kind war, hatte ich eine englische Erzieherin; sie sang Lieder. – Gestatten Sie, dass ich mich ein wenig aufstütze. – Wissen Sie, ich habe später ihre nursery rhymes übersetzt und veröffentlicht. Vielleicht erfand ich auch neue ... Sagen Sie es nicht vor. Mary had a little lamb
Its feet were white as snow
And everywhere that Mary went ...‘

Und wieder die deutschen Bewacher: ‚Ruhe in der Einteilung! Schmeißt die Beine hoch!‘“
Zitat Ende.

Als einer der Schwachen gehörte Jean de Frotte zum Krankentransport aus Wilhelmshaven. Er überlebte das Bombardement von Lüneburg relativ unbeschadet. Aber anders als Harold Le Druillenec wurde er nicht nach Bergen-Belsen gebracht. Sein Leichnam wurde bei einer späteren Exhumierung identifiziert. Wie zweifelsfrei festzustellen war, wurde Jean de Frotte mit einem Schuss in den Kopf ermordet.



Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Literatur: Immo de Vries, Kriegsverbrechen in Lüneburg. Das Massengrab im Tiergarten.

Herausgeber: Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V.
Heiligengeiststraße 28
21335 Lüneburg
Tel.: 04131-401936
Fax: 04131-403656
Erscheinungsdatum: Januar 2000
ISBN 3-9804521-3-1
Volkstrauertag - Gedenken an Kriegsverbrechen

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